Russland

Geld kann kein Menschenleben ersetzen


St. Petersburg (n-ost) – „Natürlich vermisse ich meinen Mann. Aber es macht keinen Sinn, ständig zurückzublicken. Ich lebe jetzt und muss an die Zukunft meiner Kinder denken“, sagt Irina Schubina. Ihre ältere Tochter Alina ist verheiratet und hat vor kurzem ihr Informatikstudium abgeschlossen, ihre 17-jährige Tochter Alexandra gerade die Schule beendet. Seit fünf Jahren ist ihr Mann tot. Fregattenkapitän Aleksandr Schubin war Stellvertreter des Kommandanten für die Ausbildung auf dem Atom-U-Boot „Kursk“.

Am 12. August 2000 sinkt der Stolz der russischen Flotte während eines Manövers in der Barentssee und reißt 118 Seeleute in den Tod. Erst zwei Tage später werden die Angehörigen informiert. Irina Schubina erfährt aus dem russischen Fernsehen, die „Kursk“ liege auf dem Meeresgrund, die Mannschaft werde gerettet. Sie ist mit ihren beiden Töchtern in Sewastopol auf der Krim, um ihre Mutter zu besuchen und unbeschwerte Ferien zu verbringen. In Sewastopol hat sie auch ihren Mann kennen gelernt. Er absolvierte die Militärakademie, sie studierte am Bautechnikum.

„Fast eine Woche lang habe ich gehofft und gebangt“, erzählt die 43-jährige. „Aber wir wurden belogen und betrogen“. Russische Politiker und Offiziere verbreiten die Version, die „Kursk“ sei nach der Kollision mit einem ausländischen U-Boot gesunken. Dabei hat der Computer eines norwegischen seismologischen Instituts zwei schwere Erschütterungen in der Barentssee aufgezeichnet, die auf Torpedoexplosionen deuten. Die russische Marineführung lehnt jedes Eigenverschulden kategorisch ab und erklärt, sie hätten Klopfzeichen gehört und kämen mit dem Unglück allein zurecht.

Erst nach Tagen bittet der Kreml offiziell um westliche Hilfe. Wenige Stunden bevor Briten und Norweger mit ihrem Rettungsgerät vor Ort sind, werden plötzlich alle Seeleute für tot erklärt. Als norwegische Spezialisten am 21. August dennoch zur „Kursk“ hinunter tauchen und die Rettungsluke öffnen, stehen alle Sektionen voller Wasser. Damit ist klar, dass es keine Überlebenden mehr gibt. Erst nach elf Tagen ist Russlands Präsident Wladimir Putin bereit, mit den Angehörigen zu sprechen. Manche schreien ihre Wut und
Verzweiflung lautstark hinaus.

Doch nicht alle Seeleute waren sofort tot: Im Oktober 2000 werden die ersten Toten aus dem hinteren Teil der „Kursk“ geborgen. In der Uniformtasche des Kapitänleutnants Dmitri Kolesnikow finden Taucher einen Brief an seine Ehefrau. Auszüge werden ihr später ausgehändigt und veröffentlicht. „13.15 Uhr. Die Besatzung der sechsten, siebten und achten Sektion ist in die neunte übergewechselt. Wir sind hier 23 Mann. Keiner von uns kann an die Oberfläche gelangen. Ich schreibe dies blind. Es gibt keinen Grund zum Verzweifeln. Es ist zu dunkel zum Schreiben. Ich werde versuchen, es nach Gefühl zu tun. Es scheint, als gebe es keine Hoffnung.“

Die Überlebenden sind qualvoll erstickt oder verbrannt. Irina Schubinas Mann war vorne in der zweiten Sektion und hatte keine Chance. Die Explosion eines defekten Torpedos zerfetzt den Bug des U-Bootes. Zu diesem Schluss kommt eine eigens eingesetzte Regierungskommission im Sommer 2002. „Es ist schrecklich für mich, mir vorzustellen, wie die jungen Männer im hinteren Teil gestorben sind. Darüber will ich gar nicht nachdenken und hoffe, dass mein Mann wirklich sofort tot war“. Vor Wut und Zorn sei ihr damals schwarz gewesen vor Augen. Fünf Jahre später fällt es der 43-jährigen leichter, darüber zu sprechen.

Nachdem die Kursk im Herbst 2001 gehoben wird und die Besatzungsmitglieder identifiziert sind, kann Irina Schubina ihren Mann in St. Petersburg auf einem Militärfriedhof beerdigen.
Am fünften Todestag besucht sie mit anderen Hinterbliebenen einen Gedenkgottesdienst in der Nikolas-Marine-Kathedrale und geht zum Grab ihres Mannes.

Irina Schubina wohnt seit vier Jahren in einer Dreizimmerwohnung im Norden von St. Petersburg. Im vierten Stock eines rot und weiß gestrichenen Mietshauses, das der Marine gehört. Das Bad und die Küche sind neu gefliest und modern ausgestattet, im Wohnzimmer hängen grün gemusterte Tapeten. In der Garnisonsstadt Widjajewo, dem Heimathafen der „Kursk“, hat sie es nicht mehr ausgehalten. „Immer wenn ich durch die Garnison gegangen bin, habe ich mich umgedreht und einen Offizier in Uniform gesehen, der meinem Mann sehr ähnlich war.“ In der Großstadt sei die Atmosphäre anders, die Menschen seien anders und Armeeangehörige würden einem nicht auf Schritt und Tritt begegnen.

Die Militärbehörden haben den Frauen neue Wohnungen und neues Mobiliar besorgt. Auf der
Etage von Irina Schubina wohnen zwei Frauen, die ebenfalls ihren Mann beim Untergang des U-Bootes verloren haben. Der Abschied aus der kleinen Garnisonsstadt Widjajewo am Polarkreis ist vielen nicht schwer gefallen. Das Klima war rauh, die Wohnungen waren herunter gekommen und die Lebensbedingungen schlecht. Sechs Wochen im Winter, von Anfang Dezember bis Mitte Januar, geht die Sonne nicht auf. Zwanzig Jahre hat Irina Schubina im Hohen Norden gewohnt und auf vieles verzichten müssen. Oft gab es kein Wasser, keinen Strom und keine Heizung. Vom Sold ihres Mannes und ihrem Gehalt als Hausverwalterin konnten sie kaum leben.

Jetzt arbeitet Irina Schubina als Buchhalterin. Das Sparbuch mit 720.000 Rubeln, knapp 30.000 Euro, das sie von der russischen Regierung kurz nach dem Untergang der „Kursk“ bekommen hat und Spendengelder aus dem Ausland ermöglichen ihr und ihren Töchtern ein besseres Leben. Doch viele Russen neiden ihr und den anderen Angehörigen das Geld. Noch nie ist in Russland eine so hohe Entschädigung gezahlt worden. Oft hat Irina Schubina gehört, sie habe sich am Tod ihres Mannes bereichert. „Doch Geld kann kein Menschenleben ersetzen“, sagt die 43-jährige.

***Ende*** 

Ulrike Lückermann


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