Die große Entwarnung
Moskau/Novosibirsk (n-ost) - Im Altai-Gebiet in Südsibirien brennen Scheiterhaufen. Hunderte von Hühnern, Enten und Gänsen werden verbrannt. An den Feuern stehen Männer in weißen Schutzanzügen, mit Brille und Mundschutz. Nach dem Einsatz am Feuer werden sie von ihren Kollegen mit Desinfektionsmittel abgespritzt. In Schlauchbooten sitzen Männer mit Schrotflinten. Sie sollen vorbeifliegenden Enten einen Schreck einjagen und sie an der Landung in den Dorfteichen hindern. Die Jagd nach Wildenten ist in Westsibirien jetzt verboten.
Nikolai Korolow lebt im Dorf Mammontow. Seinen Entenstall mit dem schwarz-weiß gescheckten Gefieder habe er zu einer „Festung“ ausgebaut, erklärt er mit Stolz und Zuversicht. Durch den Maschendraht komme noch nicht mal ein Sperling durch.
Unterdessen laufen Angestellte des Tierärztlichen Dienstes in weißen Kittel über die Privat-Höfe. Das Fernsehen zeigt nur zufriedene Gesichter. „Nein, tote Tiere gibt es nicht, alles ist in Ordnung“, erklärt eine Bäuerin der Frau im weißen Kittel. Die Angst, den eigenen Bestand an Hühnern, Enten und Gänsen vernichten zu müssen, ist groß. Hühnerfleisch ist vergleichsweise billig und eine wichtige Ernährungsquelle. Außerdem werden die Hühnereier verkauft. Das bringt im Jahr pro Huhn 6.000 Rubel (170 Euro) ein. Wer möchte auf diesen Verdienst schon verzichten? Die staatliche Entschädigung für Hühner und Enten liegt zwischen 150 und 200 Rubel (vier und sechs Euro) und wiegt den Verlust nicht auf. Viele Betroffene fürchten auch, dass der Staat die Auszahlung der Entschädigung „vergisst“. Deshalb fordern sie, dass man das Geld vor der Vernichtung der Vögel zahlt. Aus Angst vor Kontrollen sollen sich einige Bauern mit ihren Gänseherden schon in die Wildnis abgesetzt haben.
Das Altai-Gebiet gehört zu den sieben russischen Gebieten, wo man den auch für den Menschen potentiell gefährlichen Virus A H5N1 bei toten Hühnern und wilden Enten fand. In 16 Dörfern des Gebietes wurde nach offiziellen Angaben der gesamte Bestand an Hühnern, Enten und Gänsen bei Privatbauern vernichtet. Während das Sterben der Vögel im Altai-Gebiet in den letzten Tagen anhielt, soll es nach einer Erklärung des russischen Chefarztes Gennadi Onistschenko in anderen betroffenen Gebieten wie dem Bezirk Nowosibirsk und Tjumen in den letzten Tagen keine neuen Todesfälle von Vögeln gegeben haben.
Die Epidemie, an der seit Ende Juli 12.000 Hühner, Enten und Gänse starben – 130.000 Tiere wurden vorsorglich vernichtet - , haben die russischen Behörden jetzt angeblich im Griff. Die Lage „stabilisiere“ sich heißt es von Seiten des russischen Katastrophenministeriums.
Indessen sind die Meldungen über Seuche wie bisher widersprüchlich. Während in den letzten Tagen Fälle von toten Enten und Hausgänsen im Wildgehege „Juschni“ in der russischen Teilrepublik Kalmykien gemeldet wurden (Kalmykien liegt im europäischen Teil Russlands) und auf der Farm „Plemptiza“ mit 142.000 Hühnern im sibirischen Omsk der Verdacht auf Vogelgrippe besteht, gab der russische Chefarzt Gennadij Onistschenko am Montag Entwarnung. Man werde die Ausfuhrbeschränkungen für Hühnerfleisch in einer Reihe von Regionen aufheben, erklärte er. Eine Epidemie gäbe es in Russland nicht. Der europäische Teil des Landes sei nicht bedroht. Schon Ende letzter Woche hatten die offiziellen Stellen Meldungen widersprochen, nach der sich die Vogelgrippe westlich des Ural-Gebirges in Kalmykien und Baschkortostan ausbreite.
In den Hühnerfabriken Westsibiriens haben die Tiere aus Sicherheitsgründen keinen Freilauf. Vereinzelt wurde diese Maßnahme auch für Hühnerfarmen im europäischen Teil Russlands angeordnet, so etwa in Saratow. Die Mitarbeiter der Hühnerfarmen müssen sich nach offizieller Mitteilung mehrmals am Tag einem Gesundheits-Checks unterziehen.
Der Biologe Pawel Tomkowitsch von der Moskauer Universität meinte gegenüber der „Nesawisimaja Gaseta“, der Vogelgrippen-Virus könne über Raben, die zum Überwintern vom Ural-Gebiet nach Westen ziehen, bereits im Herbst nach Moskau gelangen. Auf Müllhalden könnten sich die einheimischen Vögel an den zugeflogenen Tieren infizieren.
Entgegen den beruhigenden Erklärungen wird es im Herbst im europäischen Teil Russlands kritisch. Dann droht Gefahr nicht nur durch Zugvögel, sondern auch durch die alljährliche Grippewelle. Selbst der russische Chefarzt Onistschenko hält eine Zuspitzung der Situation dann für möglich. Die Gefahr einer weltweiten Epidemie bestehe dann, wenn sich eine am Vogelgrippenvirus infizierte Person zusätzlich an normaler Grippe infiziere. Dann könne der Vogelgrippen-Virus zu einem neuen Virus mutieren, der von Mensch zu Mensch übertragen wird. Bisher können Menschen sich nicht gegenseitig anstecken. Noch gibt es ein Russland auch noch keinen Fall eines Menschen der an der Vogelgrippe erkrankt ist. Das wichtigste Gegenmittel – so Chefarzt Onistschenko seien jetzt Impfungen gegen die herkömmliche Grippe.
Kurzzusammenfassung:
Keine Panik
Die Vogelgrippe hat sich in Russland seit Ende Juli in sechs Gebieten an der Grenze zu Kasachstan ausgebreitet. Woher der Virus genau stammt ist bisher unbekannt. Sicher ist nur, dass die Vogelgrippe durch Wildenten übertragen wurde. Zuerst erkrankten Hausenten und Gänse, welche die offenen Gewässer nutzen. Eine Ursache der Vogelgrippe ist nach einer Mitteilung des Landwirtschaftsministeriums die starke Vermehrung von Wildenten und den auf Höfen gehaltenen Hühnern und Enten.
In den russische Medien ist die Vogelgrippe ein Randthema. Nur jeder zehnte Russe macht sich Sorgen. Das ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts FOM. Auf den Kauf von russischen Hühnchen wollen nur fünf Prozent der Befragten verzichten. Die Reaktion der Russen auf die Meldungen über die Vogelgrippe ist, wie bei anderen Katastrophen auch, gelassen bis fatalistisch. 79 Prozent der Befragten meinen, Hühnerfleisch welches vom Virus befallen ist, sei für den Menschen gefährlich. Aber nur 28 Prozent der Befragten wollen deshalb weniger „vaterländisches“ Hühnerfleisch kaufen.
Vertreter der russischen Schnellimbis-Kette „Rostik Grupp“ beruhigen unterdessen ihre Kunden. Der Virus werde durch die hohen Temperaturen bei der Verarbeitung vernichtet, heißt es. Für alle Fälle arbeitet man aber schon mal an einem Notfall-Plan. Dann werde man nur noch ausländisches Hühnerfleisch zu goldgelb frittierten Stücken verarbeiten.
*** Ende ***
Ulrich Heyden