Aufstand in russischem Arbeitslager
MOSKAU/ ULJANOWSK (n-ost) - In Russland protestieren erneut Häftlinge gegen die brutale Behandlung durch das Wachpersonal. Am Sonntag Abend traten im Arbeitslager Nr.3 im Gebiet Uljanowsk, drei Flugstunden östlich von Moskau, 180 Häftlinge in den Hungerstreik. Der Fernsehsender NTW berichtet unter Berufung auf Menschenrechtsgruppen, die Protestierenden hätten sich die Venen aufgeschnitten. Am Montag hatte es noch Verhandlungen mit der Gefängnisleitung gegeben, doch am Dienstag eskalierte die Protestaktion. Von den 1.200 Häftlingen gingen nur 456 zur Arbeit. Im Arbeitslager Nr. 3 werden Zulieferteile für das Autowerk „UAS“ in Uljanowsk hergestellt.
An der Protestaktion nahmen zunächst 20 Häftlinge teil. Dann weitete sich die Aktion auf 60 Häftlinge aus. Die Gefängnisleitung bestätigte, dass sich einige Häftlinge selbst verletzt haben. Die Verletzungen seien jedoch „nicht lebensgefährlich“ und hätten „demonstrativen Charakter“. In einer Presseerklärung der russischen Gefängnisverwaltung heißt es, die Häftlinge hätten sich Schrammen zugefügt, um eine Verstümmelung „zu imitieren“.
Wie Wasili Sima, ein Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft, gegenüber der Nachrichtenagentur Interfax erklärte, habe man gegen die Leitung des Arbeitslagers ein Strafverfahren wegen Überschreitung von Amtsvollmachten eingeleitet. Die Häftlinge fordern nach dem Bericht von Sima auch getrennte Essenzeiten für „normale“ Häftlinge und Häftlinge mit „nichttraditioneller sexueller Orientierung“ sowie Zigaretten und Tee für die Häftlinge in der Strafzelle. Außerdem weigere man sich weiter die Klos zu säubern, eine Arbeit, die in der Gefängnishierarchie in der Regel Schwulen und Vergewaltigern aufgetragen wird.
Angesichts der zahlreichen Gefängnisaufstände in der letzten Zeit erklärte Wladimir Semenjuk, stellvertretender Leiter der russischen Gefängnisverwaltung, auf einer Pressekonferenz in Moskau, die Gefängnisrevolten würden von „Wory w sakone“, „Diebe im Gesetz“ organisiert. So heißen die kriminellen Autoritäten in- und außerhalb der Gefängnisse. „Sie geben keine Ruhe und fordern die Einführung ihrer Ordnung.“ Man hoffe, dass der Anführer der Protestaktion, welcher sich in Freiheit befinde, bald gefasst werde.
Im Frühjahr 2003 war es in einem Straflager für Jugendliche nahe der östlich von Moskau gelegenen Stadt Kasan zu einem Aufstand gekommen. Über 50 Personen schnitten sich die Venen mit Scherben und scharfen Steinen auf. Im Juni dieses Jahres hatten sich 400 Häftlinge in einem Arbeitslager nahe der südlich von Moskau gelegenen Stadt Lgow die Venen aufgeschnitten. Nach einer Untersuchung wurde der Leiter des Arbeitslager wegen Überschreitung der Amtsvollmachten abgesetzt. Unmittelbar auf den Aufstand in Lgow folgten Proteste im Arbeitslager Nr. 8 nahe der sibirischen Stadt Omsk. Auch hier verstümmelten sich Häftlinge selbst. Anfang September verweigerten schließlich 700 Häftlinge im Moskauer Untersuchungsgefängnis „Matrosenstille“ das Frühstück. Sie protestierten, weil das Wachpersonal einen Häftling verprügelt hatte. In der „Matrosenstille“ sitzt auch der verurteilte Ölmilliardär Michail Chodorkowski ein.
Boris Pantelejew von der russischen „Bewegung für Menschenrechte“ bestreitet, dass die Aufstände von Außen gesteuert sind. Die Protestaktionen fänden schnell Nachahmer, weil das Fernsehen über Gefängnisaufstände berichte. Tatsächlich – so der Menschenrechtler – gäbe es zwischen den kriminellen Autoritäten, der Polizei und den Gefängnisverwaltungen „enge Drähte“. Sie „ernährten“ sich gegenseitig.
Die Ursache der Aufstände sind nach Meinung von Pantelejew immer die gleichen: Brutale Behandlung der Gefangenen bis hin zu Folter, der Versuch Gefangene „zu brechen“, schlechtes Essen und medizinische Versorgung, schlechte Sanitäranlagen. Nach Ermittlungen der Menschenrechtsorganisation leidet heute jeder Fünfte russische Strafgefangene an Tuberkulose und jeder Zehnte an Aids. Das russische Gefängniswesen ist nach Meinung der Menschenrechtsorganisation in einer ernsten Krise. Man könne nicht ausschließen, dass es noch in diesem Jahr zu einem landesweiten Aufstand in den Haftanstalten kommt.
*** Ende ***
Ulrich Heyden