Russland

Jeden Tag 100 neue Infektionen

Moskau (n-ost) – In Moskau gibt es heute (Donnerstag) einen ganz besonderen Schönheitswettbewerb. Im Theaterzentrum Mejerchold wird die „Miss Positiv 2005“ gefeiert. „Schagi“ (russ. Schritte), eine neue Internet-Zeitung für HIV-Positive, hat den Wettbewerb organisiert. 30 Frauen schickten Photos ein. Die Jury wählte Swetlana Isambajewa aus. Die junge Frau mit den blonden, halblangen Haaren lebt in der Wolga-Stadt Tscheboksary, drei Flugstunden östlich von Moskau. „Ich hoffe, dass mein Schritt anderen hilft, mit ihrer Angst fertig zu werden. Jede wirkliche Frau ist in jeder Situation schön,“ erklärte die 24-jährige dem Boulevard-Blatt „Moskowski Komsomolez“.

Swetlana studiert am Landwirtschaftsinstitut. Nebenbei verdient sie sich Geld als Friseurin. Ihre Freunde habe die Nachricht über ihre Infektion schockiert, aber niemand habe ihr den Rücken gekehrt, sagt sie. Swetlana ist nicht verheiratet und hat auch keine Kinder. Von ihrem Freund hat sie sich getrennt. „Es war nicht wegen der Infektion, die Interessen gingen einfach auseinander.“ In ihrer Heimatstadt Tscheboksari baute Swetlana die Selbsthilfegruppe „Golos“ („Stimme“) auf. Die Zusammenarbeit mit anderen HIV-Positiven habe ihr sehr viel Kraft gegeben. Vor drei Jahren habe sie noch Angst gehabt, sich in der Bibliothek ein Buch über Aids auszuleihen. Bis heute fühlen sich die meisten HIV-Positiven in Russland als Ausgestoßene.

Angst vor den Infizierten

Schönheitswettbewerbe für HIV-Positive sind für die Russen gewöhnungsbedürftig. Nach einer Umfrage des Allrussischen Meinungsforschungszentrums WZIOM haben 75 Prozent der Befragten Angst, bei einem HIV-positiven Verkäufer Lebensmittel einzukaufen. Das Unwissen über die Übertragungswege der Krankheit ist so groß wie das Unwissen über Verhütungsmittel. Die russische orthodoxe Kirche und andere konservative Kreise haben die von ausländischen Stiftungen gesponserten Aufklärungskampagnen in den vergangenen Jahren aktiv behindert. Doch die Situation in Russland entwickelt sich so dramatisch, dass die politische Elite inzwischen um die nationale Sicherheit fürchtet. Ende September versprach Wladimir Putin in einer Fernsehansprache, die Gelder für den Kampf gegen Aids um das 20-fache zu erhöhen. Im Haushalt 2006 sollen umgerechnet. 80 Millionen Euro bereitgestellt werden.

Das Geld kommt wohlmöglich zu spät. Nach dem jüngsten Bericht des russischen Oberarztes Gennadi Onischenko infizieren sich jeden Tag 100 Menschen mit dem gefährlichen Virus. Nach einem UN-Bericht hat Russland die höchste Steigerungsrate an HIV-Fällen verglichen mit Europa und den Nachfolge-Republiken der ehemaligen Sowjetunion.

Die erste Infizierungswelle begann über den Drogenkonsum. Doch seit 2001 ist die Ansteckung auf sexuellem Wege von sechs auf 25 Prozent gewachsen. 80 Prozent der Neu-Infizierten sind Jugendliche unter 30.
Insgesamt wurden in Russland seit 1987 340.000 HIV-Fälle registriert. Experten glauben, dass die wirkliche Zahl fünfmal höher liegt. Die meisten Infizierten gibt es in den großen Städten. Allein in Moskau und dem Moskauer Umland sind 51.400 Menschen infiziert.

Welche Folgen mangelnde Aufklärung hat, zeigt das Beispiel HIV-positiver Mütter. Drei von 20 HIV-positiven Müttern sagen sich von ihren Neugeborenen los. Für diese Frauen gab es weder Aufklärung über Abtreibungsmöglichkeiten, prophylaktische Maßnahmen noch psychologische Unterstützung, meint Karel de Roi, Vertreter der UNICEF in Russland. Wenn die HIV-positiven Frauen sich während der Schwangerschaft medikamentös behandeln lassen, würden in 99 Prozent der Fälle gesunde Kinder geboren, erklärte Jewgeni Woronin, Direktor des Zentrums für HIV-Positive Schwangere. Heute gibt es in Russland 21.000 Kinder von infizierten Müttern. Bei zweitausend Kindern hat man den Virus festgestellt. 12.000 Kinder stehen „unter Beobachtung“.

Kasten

Aids in den Nachfolgestaaten

In der Ukraine gibt es offiziell 83.000 HIV-Positive, darunter 10.000 Kinder. 11.400 Menschen sind an Aids erkrankt. Nach Schätzung der UN liegt die wirkliche Zahl derjenigen die mit dem HIV und Aids leben müssen bei einer halben Million. Das ist ein Prozent der Bevölkerung.
In Kasachstan sind 5.400 HIV-Positive und 300 Aids-Fälle registriert.
In Usbekistan hat sich die Zahl der HIV-Fälle im letzten Jahr auf 5.600 verdoppelt.

*** Ende ***



Ulrich Heyden


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