Russland

Warten auf die chinesische Giftbrühe

Wladiwostok (n-ost) - Ein Giftteppich, bestehend aus 100 Tonnen Benzol, Nitrobenzol und anderer hochgiftiger Stoffe, bewegt sich über die Flüsse Songhua und Amur auf die russische Stadt Chabarowsk zu. Den 600.000 Einwohnern der Stadt, die ihr Wasser hauptsächlich aus dem Amur beziehen, droht Gefahr durch verseuchtes Trinkwasser. Grund für die Verseuchung ist die Explosion in einem chinesischen Chemiewerk nahe der Millionenstadt Harbin am 13. November. Unmittelbar nach dem Chemie-Unfall war im Fluss Soungari ein massives Fischsterben festgestellt worden.

Den letzten Berechnungen zufolge würde die Giftkonzentration im Wasser bei ihrer Ankunft in Chabarowsk immer noch das Zehn- bis Fünfzehnfache des zulässigen Höchstwertes überschreiten. Schon seit Tagen kaufen die Bewohner Trinkwasserkanister auf Vorrat und decken sich mit Leitungswasser ein, das in allen möglichen Behältern verstaut wird. Bisweilen wird Wasser sogar in Plastiktüten abgefüllt und auf Balkonen deponiert. Einer großen Nachfrage erfreuen sich im Moment Filter verschiedener Preislage und Qualität. Der Zugang zum Amur wurde inzwischen eingeschränkt, eine Maßnahme, die zu dieser Jahreszeit aber nur Eisangler betrifft. Krankenhäuser stellen Reservebetten für Notfälle zur Verfügung. Sobald im Amur erste Anzeichen von Chemikalien festgestellt werden, die den zulässigen Höchstwert übersteigen, soll die städtische Wasserversorgung abgeschaltet und eine große Anzahl öffentlicher Gebäude geschlossen werden. Zur Wasserversorgung der Stadt werden Tankwagen bereitgestellt, die mit Wasser aus unterirdischen Quellen gefüllt sind. Die Frage, inwieweit das Wasser solcher Quellen wirklich sauber ist, kann allerdings nicht beantwortet werden.

Die Chabarowsker Medien berichten regelmäßig über den Stand der Vorbereitungen und über die Standorte in der Stadt, an denen man sich mit Trinkwasser versorgen kann. Panik ist bisher nicht zu beobachten, nur angespanntes Abwarten, da letztlich niemand weiß, was genau passieren wird.

Die genaue Zusammensetzung des Giftes und der Zeitpunkt seiner Ankunft in Chabarowsk sind immer noch unklar. Zwei der giftigsten Stoffe des verseuchten Wassers, Benzol und Nitrobenzol, und ihre Dämpfe können über die Atmung, den Verdauungstrakt oder die Haut in den Körper eindringen und zu schweren Vergiftungen bis hin zu Krebserkrankungen führen. Eine Konzentration von 20 Teilen Benzol in 1 000 Teilen Atemluft kann tödlich sein, wenn dieses Gemisch länger als fünf bis zehn Minuten eingeatmet wird, berichtete der russische Sender n-tv.
Die Länge des Giftteppichs wurde von China zwischenzeitlich mit 80 Kilometern angegeben. Die durchschnittliche Fließgeschwindigkeit soll 2 Kilometer pro Stunde betragen, hängt allerdings auch vom Flussverlauf ab. Außerdem drosseln die Eismassen auf dem Amur, die Fließgeschwindigkeit. Mit der Ankunft des verseuchten Wassers in Chabarowsk wird derzeit für den 9. bis 12. Dezember gerechnet.

Eine Theorie besagt, dass das Zufrieren des Amur auch zu einem Einfrieren des Giftteppichs führen würde und damit auch zu einer zeitweiligen Lösung des Problems. Über die Maßnahmen, die im Frühjahr beim Tauen des Eises getroffen werden müssten, ist sich jedoch noch niemand im Klaren. Der Moskauer Stellvertreter der Russischen Gesellschaft für Naturüberwachung, Oleg Mitvol, flüchtet sich in Zynismus. „Nach den Frühlingsüberschwemmungen wird der Fluss viel sauberer sein. Benzol wirkt desinfizierend auf das Plankton und die Uferregion, damit verschwinden schädliche Mikroben und anderer Dreck“, äußerte er auf einer Pressekonferenz in Chabarowsk.

Fraglich ist auch, was mit dem Gift geschehen wird, nachdem es Chabarowsk passiert hat. Der Amur mündet leicht östlich von Nikolajewsk-na-Amure in eine Meeresstraße zwischen dem Ochotskischen und dem Japanischen Meer am Nordwest-Rand des Pazifik. Der Flussmündung liegt weiter östlich das nördliche Ende der Insel Sachalin gegenüber. Über die möglichen Folgen für die weiteren Städte am Amur, für das Ökosystem des Meeres und die Küste Sachalins wird gerätselt.

Russland erfuhr von der Chemie-Explosion in China, die bereits am 13. November stattfand, erst mit einwöchiger Verspätung. Die Verschmutzung des Amur durch China hat eine breite Debatte ausgelöst: Die „Komsomolskaja Prawda“ vom 30. November berichtet von den Ergebnissen einer Forschergruppe des Pazifischen Geographie-Instituts, welche besagt, dass andere russische Grenzflüsse nahe der Küstenstadt Wladiwostok schon lange mit Abfällen chinesischer Schwerindustrie vergiftet seien. „Man sollte den ökologischen Feind jedoch nicht im Ausland suchen“, warnt Forschungsleiter Wladimir Schulkin. „Solange die Stadt Wladiwostok über keinerlei Reinigungsanlagen verfügt, schadet sie sich selbst. Allein der Fluss Wtoraia Retschka enthält lösliche Metalle, die den zulässigen Höchstwert um das Dreißigfache übersteigen.“ Das chinesische Außenministerium hatte sich am 26. November offiziell für die Verschmutzung des Soungari entschuldigt und Katastrophenhilfe angeboten.

ENDE



Evelyn Radke


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