Entsetzen in ganz Russland
Moskau (n-ost) - Zum Fall des misshandelten Wehrpflichtigen Andrej Sytschow, der die russische Öffentlichkeit seit Tagen beschäftigt, hat nun auch der Oberkommandierenden der russischen Streitkräfte, Wladimir Putin, Stellung bezogen.
Der 19jährige Soldat war in der Panzer-Schule von Tscheljabinsk während einer Sylvester-Orgie von besoffenen, älteren Soldaten an einen Stuhl gefesselt und stundenlang getreten und auch vergewaltigt worden. In Folge der Verletzungen mussten dem Wehrpflichtigen beide Beine, die Genitalien und ein Finger amputiert werden. Wladimir Putin sprach von einem tragischen Fall und wies den russischen Verteidigungsminister Sergej Iwanow an, die Vorfälle „vollständig“ aufzuklären, die Familie finanziell zu unterstützen und die Erziehungsarbeit in der Armee zu verbessern.
Mitte letzter Woche hatte der russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow für öffentliche Verwunderung gesorgt. Als er von Journalisten zu dem Fall in Tscheljabinsk befragt wurde, erklärte der Minister, der sich gerade auf einer Reise in Armenien befand, „ich glaube, dass es dort nichts ernstes gibt. Andernfalls hätte ich auf jeden Fall davon gehört.“ Insgesamt acht Soldaten waren während der Gewalt-Orgie geschlagen worden. Doch Andrej Sytschow traf es am schlimmsten. Die Leitung der im Ural gelegenen Panzer-Schule hatte versucht, den Fall geheim zu halten. Doch nach drei Wochen, wusste es ganz Russland.
Es begann am 4. Januar mit einem anonymen Anruf aus dem Krankenhaus. Eine unbekannte Person meldete der örtlichen Organisation der „Soldatenmütter“, im Krankenhaus von Tscheljabinsk läge ein Soldat ohne Beine. Es folgte ein Bericht des örtlichen Fernsehens. Auch „Radio Liberty“ berichtete über den Fall. Doch es dauerte zwei Wochen, bis die nationalen russischen Fernsehkanäle ihr Schweigen brachen und über das erneute Opfer der „Dedowtschina“ berichteten. Dedowtschina nennt man in Russland die Hackordnung in der Armee, bei der die älteren Soldaten (die „Großväter“) über die jüngeren herrschen und diese erniedrigen und oft auch quälen.
Nachdem sich die nationalen Fernsehkanäle des Themas angenommen hatten, zeigte die Armeeführung plötzlich ungewohnte Aktivität. Gegen zwölf Soldaten wurden Strafverfahren eingeleitet. Acht Soldaten wurden verhaftet. Weil sie – so Medienberichte - gut mit den Ermittlern zusammenarbeiten und keine Fluchtgefahr bestehe, wurden drei Offiziere wieder freigelassen. Die Wehrpflichtigen befinden sich noch in Haft. Der Leiter der Panzer-Schule, General Viktor Sidorow, wurde abgesetzt.
Galina Sytschowa, die Mutter des Soldaten, erklärte gegenüber der „Komsomolskaja Prawda“, sie sei über ihr Handy schon mehrmals von Unbekannten bedroht worden. Man haben ihr Geld angeboten, wenn sie von rechtlichen Schritten gegen die Täter absehe.
Spitze des Eisberges
Der Zustand von Andrej Sytschow verbessert sich nach Angaben der Ärzte. Die nationalen Fernsehkanäle veröffentlichten ein Spendenkonto für den Soldaten. Die Ärzte des Moskauer chirurgischen Pirogow-Zentrums boten eine kostenlose Operation zur „Wiederherstellung“ der amputierten Genitalien an. Walentina Melnikowa, die Vorsitzender Moskauer Soldatenmütter, erklärte gegenüber dieser Zeitung, der Fall Sytschow sei nur die Spitze des Eisberges. Jährlich – so Melnikowa – sterben in Russland 2.400 Soldaten, die Gefallenen in Tschetschenien nicht mit einberechnet. Bei dem Großteil dieser Toten handelt es sich um Unfälle. Wie viele Soldaten in Folge von Selbstmorden und Soldaten-Quälereien sterben, lässt sich nach Meinung von Melnikowa, die den Ausweg aus den Dedowtschina-Gräueln in der Einführung einer Berufsarmee sieht, nicht exakt ermitteln. Viele Fälle von Soldatenquälereien mit tödlichem Ausgang würden von den Generälen als „unglücklicher Unfall“ vertuscht.
Böse Gerüchte über Menschenrechtler
Die russischen „Soldatenmütter“ erleben jetzt wie alle Nichtregierungsorganisationen (NGO) in Russland eine harte Zeit. Ein neues Gesetz sieht schärfere Kontrollen der NGO vor und neuerdings werden die Menschenrechtler sogar der Zusammenarbeit mit Spionen verdächtigt. Wenn es keine „Soldatenmütter“ gibt, können die Soldaten nirgendwo anrufen, um sich zu beschweren, erklärte Walentina Melnikowa. Die Feststellung war offenbar nötig, denn in den kremltreuen Medien werden NGO und ausländische Spione neuerdings in einem Atemzug genannt.
Kaum hatten die Menschenrechtler ihre Erklärungen zum Fall des Soldaten abgegeben, kam schon die nächste Hiobsbotschaft. Das Registrierungs-Büro für NGO reichte beim Moskauer Basmanny-Bezirksgericht eine Klage gegen das in der City gelegene „Russische Zentrum für Menschenrechte“ ein. Unter dem Dach des Zentrums, welches seit 1990 existiert, arbeiten die „Soldatenmütter“, die Organisation „Reform des Strafrechts“, die Organisation „Recht der Mutter“ und andere NGO. Von staatlicher Seite heißt es, das Zentrum habe jahrelang keine Abrechnungen vorgelegt. Walentina Melnikowa widerspricht dieser Behauptung. Die Moskauer Menschenrechtler wollen vor Gericht ihre Rechte verteidigen.
*** Ende ***
Ulrich Heyden