Montenegro

"Solanistan" am Ende

Die Fahrt in klapprigen Waggons vom montenegrinischen Adriaort Bar über Podgorica, dem einstigen Titograd, bis hinauf nach Serbien ist eine der zeitaufwändigsten und romantischsten Bahnreisen, die Europa zu bieten hat. Stundenlang müht sich der Zug durch die eindrucksvolle Bergwelt Montenegros, durchschneidet Felsmassive, rattert durch unzählige Tunnel, über Brücken und Viadukte, touchiert so fisch- wie vogelreiche Gewässer. Die teils eingleisige Strecke, 1976 fertig gestellt, war eine der Lebensadern Jugoslawiens.

Doch die Regierung Milo Djukanović will die Verbindung nach Belgrad kappen. Zwar keineswegs jene, die auf Schienen und Schwellen tagtäglich mehrmals besteht. Gemeint ist die politische Standleitung zwischen Podgorica und Belgrad. Seit dem Ende des Milošević-Regimes vereint beide Länder ein loser Staatenbund, der auch auf Druck der EU zustande kam. Der Unionsvertrag weist den nationalen Gesetzgebern Serbiens wie Montenegros sehr weitgehende Befugnisse zu. Die Kompetenzen von Unionsparlament, -parlament und –regierung sind gering. Doch wo sie bestehen, wie bei der Verteidigung, sind sie Quelle ständiger Querelen zwischen beiden Ländern. Faktisch gingen Serbien und Montenegro in wichtigen Politikbereichen, vor allem auch in der Wirtschaftspolitik, in den letzten Jahren jeweils eigene Wege.

Die Existenz des Staatenbundes wird heute an einer gemeinsamen Armee, einem gemeinsamen Sitz bei der UNO oder der serbisch-montenegrinische Fußballnationalmannschaft deutlich, die sich zur Weltmeisterschaft qualifiziert hat. Doch seine Existenzberechtigung wird vor allem im gerade einmal 600.000 Einwohner zählenden Montenegro in Frage gestellt.

Dort fühlt man sich unwohl im Boot mit dem ungleich größeren, nicht einfachen Partner. „Wegen dieses Staatenbundes werden wir für alle ungelösten Probleme Serbiens stets mit angeklagt“, beschwert sich Miodrag Vuković aus dem Podgoricaer Regierungslager. Er listet Serbiens Probleme mit den Minderheiten, die Lage im Kosovo oder das nicht ungetrübte Verhältnis Belgrads zum Kriegsverbrechertribunal in Den Haag auf. Ein Unabhängigkeitsreferendum soll nun das Schicksal des Staatenbundes besiegeln.

Im Vergleich mit Serbien hat Montenegro tatsächliche eine vielfach bessere Politik-Bilanz aufzuweisen. Es unterhält weitgehend spannungsfreie Beziehungen zu den Nachbarländern; und es kooperiert ohne Wenn und Aber mit dem Haager Tribunal. Auch wirtschaftspolitisch bescheinigte unlängst die europäische Kommission dem kleinen Bergland, den Reformprozess weiter vorangetrieben zu haben als Serbien. Der Tourismus ist zuletzt in Schwung gekommen; vor allem Mittelklasse-Touristen aus Russland, Tschechien oder Slowenien neben die wunderschöne Adriaküste in Anspruch. In Montenegro kursiert mit dem Euro eine andere Amtswährung als in Serbien, und es verfügt über ein eigenes Zollregime. „Wenn die Länder sich erst wirtschaft getrennt entwickeln, ist das ganze Projekt gescheitert“, findet Politiker Vuković.

Das hat sich inzwischen auch in Brüssel herumgesprochen, wo man lange an der Idee des Staatenbundes festhielt, um es nicht mit noch mehr Balkanstaaten zu tun zu haben. Doch inzwischen widersetzt sich auch die EU der Auflösung der Union nicht mehr grundsätzlich, die seine montenegrinischen Gegner nach einem seiner Erfinder „Solanistan“ getauft haben. „Ich erkenne den Herrn Solana von heute, verglichen mit vor zwei Jahren, kaum wieder“, verspottet Vuković den Außenpolitik-Chef der EU.

Ihren Anspruch begründen die Befürworter der montenegrinischen Souveränität mit der Geschichte: Das Land, dessen hohe Berge groß und dunkel („Montenegro“) unmittelbar an die Adriaküste anschließen, war lange Zeit eigenständig. Besonders stolz sind die vergleichsweise hoch gewachsenen Montenegriner darauf, dass die Türken, anders als in Serbien, nie wirklich Fuß fassen konnten. Zu Beginn der Neuzeit kam es unter der Regentschaft geistlicher Landesherren zu einer kulturellen Blüte. Die Renaissance fasste in der historischen Hauptstadt Cetinje Fuß und verbreitete sich von dort in der ganzen Region; das erste Druckwerk in serbische Sprache erschien.

Andererseits verbindet Serben und Montenegriner mehr, als Patrioten unter letzteren zugeben wollen. Den Dichterfürsten Njegoš aus der montenegrinischen Herrscherdynastie der Petrovićs, der unweit von Cetinje auf einem Berggipfel in einem steinernen Mausoleum aufgebahrt ist, verehren beide als ihren Nationalliteraten. Nur unter größten sprachwissenschaftlichen Verrenkungen gelinkt es, aus graduellen linguistischen Unterschieden zum serbischen Hochsprache eine eigene „montenegrinische“ Sprache herauszulesen, von der die Regierung spricht.

Oft stehen eher politische Motive hinter der Aussage, „Montenegriner“ zu sein. Der beklagenswerte wirtschaftliche und politische Zustand Serbiens gab der Identitätsfindung einen Schub: Seit den letzten Jahren des Milošević-Regimes bekennen sich weitaus mehr Bewohner des Küstenlandes zum Montenegrinertum als zuvor. Dennoch bleibt das Land in der Frage gespalten: Eine Mehrheit für die Loslösung ist keineswegs ausgemacht. Und sie wäre sogar unwahrscheinlich, könnten die vielen seit Jahren in Serbien lebenden Montenegriner mit abstimmen, was sie aber wohl nicht dürfen werden.

„Das sind Serben“, insistiert etwa Lubomir Tadić, Vater des serbischen Präsidenten. Der greise Intellektuelle ist gebürtiger Montenegriner, aber die langen Lebensjahre in Serbien haben ihn geprägt. Beim Unabhängigkeitsstreben der Montenegriner handele es sich um den Versuch der „bürokratischen Machtelite“ des Landes, eine „künstliche Nation“ zu schaffen, sagt Tadić – darin „wie stets“ unterstützt von den Feinden Serbiens, Kroaten oder Deutschen.

Für Cedomir Drasković, einen der führenden Intellektuellen Montenegros, sind das bereits serbisch geprägte Vorstellungen, die seine Landsleute im Land nicht teilten. Die montenegrinische Mentalität sei pragmatischer und realitätsnäher als die der Serben. „Jene pflegen den Blick in die Vergangenheit und auf uralte Mythen wie die Schlacht auf dem Amselfeld.“ Das blockiere jede Veränderung. Gleichzeitig würde Serbien immer noch danach trachten, die Partner in der Region zu dominieren, statt mit ihnen einen Ausgleich zu suchen. „Sie glauben, so ein kleines Land sei eine leichte Beute“, vermutet Drasković.

Serbiens Regierung, inzwischen geübt darin, aus der Defensive heraus gegen Loslösungsgelüste zu argumentieren, operiert mit düsteren Szenarien wie der „Dominotheorie“. Danach folgten der Unabhängigkeit Montenegros und des Kosovos weitere gefährliche separatistische Wellen der Albaner in West-Mazedonien und Süd-Serbien, auch sei die Einheit Bosnien-Hercegovinas dann gefährdet. Zudem verweist man auf eine drohende Spaltung Montenegros: Die große pro-serbische Oppositionspartei ist vehement gegen die Loslösung.

Die EU fordert deswegen von beiden Parteien, sich einvernehmlich über die Konditionen des Referendums zu einigen. Nur dann könne sein Ergebnis anerkannt werden. Bis zuletzt rangen die Parteien in Podgorica genau darum. Dusan Janjić vom Belgrader „Zentrum für etnnische Beziehungen“ vermutet, am Ende werde ein unabhängiges Montenegro wohl gemeinsam vom derzeitigen Premier Djukanović und Oppositionsführer Bulatović als Präsident regiert.

Gut möglich, dass Djukanović ein Zweckbündnis mit seinem politischen Gegenspieler als das geringere Übel betrachtet. „Wir sind für die Auflösung jedweden Jugoslawiens“, sagt sein Parteifreund Vuković. Erst dann werde der Weg frei für eine „neuartige Integration“ in der Region – unter dem Dach der EU.


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