„Es gibt den Versuch den Stalinismus zu erhalten“
Moskau (n-ost) - Die 1.500 Delegierten lauschten gebannt. Was sie da hörten war ungeheuerlich. Nie zuvor hatte es so etwas auf einer Parteiveranstaltung gegeben. Man schrieb den 25. Februar 1956. In einer vierstündigen Rede rechnete Nikita Chruschtschow, seit 1953 erster Sekretär des ZK der KPdSU, mit Stalin ab, zählte seine Verbrechen auf und geißelte den Personenkult um den „Woschd“ (Führer). Chruschtschow hatte selbst an höchster Stelle im Parteiapparat gearbeitet, hatte erlebt wie Parteifunktionäre abgeführt wurden. Wahrscheinlich war er selbst an Säuberungen beteiligt. Doch die Dokumente darüber sind noch unter Verschluss.
Chruschtschow wich oft vom vorbereiteten Redetext ab. Im Saal herrschte „Grabesstille“, so der ehemalige KGB-Vorsitzende Wladimir Krjutschkow in seinem Buch „Persönlichkeit und Macht“. Die Rede von Chruschtschow ging als „Geheimrede“ in die Geschichte ein, denn der Parteichef ordnete an, dass sie nicht veröffentlicht wird. Doch sie gelangte über Umwege in den Westen und wurde am 16. März 1956 in der „New York Times“ gedruckt. In der Sowjetunion wurde eine Veröffentlichung erst 1989 möglich.
Der 20. Parteitag markierte den Abschied vom Massenterror und den Beginn von Reformen. Aber es waren Reformen unter Leitung der Bürokratie. Zu konsequenten Änderungen, wohlmöglich zu einem Übergang in das kapitalistische System, war Chruschtschow von seiner Biographie her nicht in der Lage, meinte Gawril Popow, 1991 bis 1992 Bürgermeister Moskaus, jetzt Rektor einer Universität.
Die russischen Archive geben ihre Geheimnisse zu den Ereignissen nur tröpfchenweise frei. Vor kurzem veröffentlichte die „Iswestija“ das Protokoll einer Sitzung des ZK-Präsidiums vom 1. Februar 1956. Ein Auszug aus dem Protokoll zeigt, wie sehr die Parteiführung im stalinistischen System verfangen war:
„Molotow: Aber man muss Stalin als großen Führer anerkennen. Mikojan: Und du, Genosse Molotow, hast ihn unterstützt. Wenn man sich die Geschichte anguckt, kann man verrückt werden. Saburow: Wenn die Fakten stimmen, ist das etwa Kommunismus? Das ist unverzeihlich. Perwuchin: Wussten wir davon? Wir wussten es, aber es gab den Terror. Woroschilow: Die Partei muss die Wahrheit wissen, aber sie muss so überbracht werden, dass es vom Leben diktiert wurde. Chruschtschow: Stalin war dem Sozialismus ergeben, aber er machte es mit barbarischen Methoden. Er ist kein Marxist. Alles Heilige was im Menschen ist, hat er ausgelöscht.“
Chruschtschow entschied sich für eine schonungslose Abrechnung. Vor polnischen Kommunisten erklärte der Reformer im März 1956 – auch diesen Text veröffentlichte jetzt die „Iswestija“ - , den Krieg hätte man auch ohne Stalin gewonnen. Die Deutschen wären „eher geschlagen worden“ und es wäre „weniger Blut vergossen“. „Vielleicht wäre es gar nicht zum Krieg gekommen. Man hätte eine klügere Politik gemacht.“
Endlich eine Wahl treffen
Das offizielle Moskau hat sich zum Jubiläum des geschichtsträchtigen 20. Parteitages in Schweigen gehüllt. Ein paar Experten veröffentlichten Zeitungsaufsätze und im Fernsehen lief eine Serie, in der es in einer Episode auch um den Stalin-Terror ging. Der Staatssender RTR zeigte die Verfilmung „Im ersten Kreis“ nach einem Roman Alexander Solschenizyns, der selbst jahrelang in Stalins Gulag inhaftiert war. Doch solche Filme gab es schon. Sie lösen keine Diskussionen mehr aus. Der Stalin-Terror ist für die Russen weit weg und in seinem ganzen Ausmaß bis heute auch nicht bekannt. Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation „Memorial“ , die sich mit Geschichtsaufarbeitung beschäftigen, werden an den Rand gedrängt, nicht zu Talkshows eingeladen.
Der Name Stalin löst in Russland heute keinen Schrecken mehr aus. Michail Gorbatschow, der immer noch zu Putin hält, warnte in diesen Tagen vor einem aufkommenden Stalin-Kult. In der Literatur, in den Theater und Kinos könne man beobachten, wie Stalin als „mächtige Figur“ dargestellt werde. „Es gibt den Versuch den Stalinismus zu erhalten.“ Eine Bedingung für den neuen Stalin-Kult seien die sozialen Probleme im Land, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, meint Gorbatschow. Der Ex-Präsident der Sowjetunion warnt, die russische Führung dürfe nicht von einem Extrem ins andere fallen. „Russland steht vor der Wahl. Die endgültige Wahl haben wir noch nicht gemacht.“
Der Anfang vom Ende
Sichtbarstes Zeichen für einen Neo-Stalinismus sind sicher die jüngsten Äußerungen von KP-Chef Gennadij Sjuganow. Die von Chruschtschow enthüllten Verbrechen bestreitet Sjuganow nicht. Mit seiner Rede habe Chruschtschow aber die Gesellschaft gespalten, der Kommunistischen Partei und dem Ansehen der UdSSR „einen nicht wieder gutzumachenden Schaden“ zugefügt. Gorbatschow und Jelzin hätten den Kurs von Chruschtschow fortgesetzt. Das Staatswesen sei untergraben worden. Heute herrschten „Kriminalität und Beamten-Bürokratie“. Die KP will das Andenken von Stalin in Ehren halten. Zu den Jubiläumsfeierlichkeiten am 60. Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland versuchten Parteiorganisationen in der Provinz Stalin-Büsten aufzustellen. Doch die örtlichen Verwaltungen stellten sich quer. „Der Kreml will keinen Lärm um Stalin“, meint Juri Lewada. Man fürchtet das internationale Echo.
Ende
Ulrich Heyden