Ukraine

Kreuzberg in Kiew

In der Textilfabrik im Kiewer Bezirk Podol herrscht Hochbetrieb: Elektriker verlegen Kabel, Maler tünchen Wände, im Treppenhaus riecht es nach Mörtel und Staub. Doch Kleidung wird in dem Ziegelbau schon lange nicht mehr genäht. Wo zu Sowjetzeiten noch Werkbänke standen, erholen sich jetzt junge Menschen bei Lounge-Musik und kühlem Bier.

Das war der Plan von Olga Bekenshtein, Timur Bascha und Ksenja Malyk, als sie vor einem Jahr aus der Fabrikhalle ein Kulturzentrum machten: das „Closer Art Center“. Aber nicht die Liebe zur Kunst trieb die drei Gründer in die Selbständigkeit, sondern die Angst vor einer ungewissen Zukunft. Der Krieg im Osten hat die Ukraine in eine tiefe Wirtschaftskrise gerissen und „viele Menschen suchen verzweifelt einen Job“, sagt Olga Bekenshtein, die eigentlich Juristin ist.

„Statt auf der Straße zu sitzen, wollten wir unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen“, ergänzt Ksenja Malyk, die sich um die Verwaltung der Räume kümmert. Nach und nach entstanden auf dem von der Stadt gepachteten Gelände ein Jazz-Saal, eine Galerie und ein Theater. Für die Musik ist Timur Bascha verantwortlich, der eigentlich Übersetzer für Koreanisch ist. Südkorea zählt zu den größten Investoren in der Ukraine. Doch wegen der Ukraine-Krise haben sich viele koreanische Firmen zurückgezogen und ukrainische Mitarbeiter entlassen. „Deshalb habe ich das Dolmetschen aufgegeben und organisiere nur noch Konzerte“, sagt der 28-Jährige mit dem Wollpulli und den langen Haaren.


Neues Leben in alten Industrieruinen

Eintrittsgelder und Mieten für Ausstellungsräume spülen etwas Umsatz in die Kasse, „aber nur so viel, dass sich das Projekt gerade trägt“, erläutert Managerin Bekenshtein. Subventionen vom Staat bekomme das Kulturzentrum nicht, fügt die Frau mit der Lockenfrisur hinzu. „Wir sind schon froh, wenn uns die Verwaltung in Ruhe lässt.“

Auch die Stadt Kiew müsste froh sein, dass neues Leben in die Industrieruinen einzieht. Im 18. Jahrhundert war der Kiewer Stadtteil Podol ein bedeutendes Industrie- und Handelszentrum. Seit dem Ende der Sowjetunion liegen viele Fabrikhallen brach. „Die Stadt hat es versäumt, die Gegend zu entwickeln“, erläutert Bekenshtein. Für die Kreativszene ist Podol dennoch ideal. Denn nicht weit entfernt beginnt das Partyviertel, wo sich auf der Sagaidatschnowo-Straße Clubs und Cafés aneinander reihen.

Nicht überall im Land sind kreative Köpfe willkommen. Etliche flohen vor den Separatisten aus der Ostukraine nach Kiew, so wie das Team vom „Isolazja“-Kulturzentrum. Bis vor einem Jahr residierten die Künstler in einer Isolatoren-Fabrik in Donezk – daher auch der Name der Gruppe. „Dort betrieben wir Galerien und Konzerträume“, berichtet Mitarbeiterin Alexandra Kovalewa. „Dann besetzten die Separatisten unsere Räume, beschlagnahmten Technik, zerstörten Bilder und Installationen“, so Kovalewa weiter.

Was die prorussischen Milizen besonders erzürnte: Auf dem Gelände von „Isolazja“ in Donezk steht ein stillgelegter Schornstein, in dem früher ein riesiger Lippenstift steckte. „Diese Installation war den Frauen von Donezk gewidmet, das hatte nichts mit Politik zu tun“, beteuert Kovalewa. Die Separatisten aber brandmarkten das Werk als entartete Kunst.


Keine Unterstützung vom Staat

Nun wagt „Isolazja“ in Kiew einen Neuanfang – und der gelingt der Truppe erstaunlich gut. In einer stillgelegten Werft am Dnjepr haben die Künstler Galerien, Werkstätten und ein Fernsehstudio untergebracht, später soll eine Druckerei hinzukommen. Überhaupt sieht es in der Fabrik nicht aus wie in einem Atelier, eher wie in einer Startup-Firma in Berlin-Kreuzberg. Geld verdient die Gruppe, die schon Exponate in Paris, Prag und Hannover ausstellte, mit der Herstellung von Designermöbeln. „Die verkaufen wir übers Internet“, sagt Kovalewa, „aber das Unternehmen rentiert sich noch nicht.“

Denn anders als in Deutschland, bekommen Gründer in der Ukraine keine Hilfe vom Staat, selbst dann nicht, wenn sie Arbeitsplätze schaffen. Und so bezweifelt Timur Bascha vom „Closer Art Center“, dass vom Charme Kreuzbergs ein Funke auf Kiew überspringt. „Die Städte sind zu unterschiedlich“, meint der Musiker, der schon öfter in Berlin auftrat. „Während Berlin die Kreativen fördert, ist bei uns die Kulturszene auf sich allein gestellt.“


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