Schwitzen auf Sibirisch
40 Grad plus sind besser als 40 Grad minus – in Sibirien wird im Sommer doppelt angepackt
Omsk/Asowo (n-ost) - Während Deutschland durch eine Hitzewelle nach der anderen lahm gelegt wird und über eine staatlich verfügte Mittagssiesta debattiert, blüht Sibirien bei Temperaturen bis plus 40 Grad auf. Hitze ist besser als Frost, wissen die Sibirjaken und nutzen die langen Tage, um das nachzuholen, was im Winter nicht möglich war.„35 Grad, was für eine Hitze“, schnauft der 42-jährige Wiktor und wischt sich den Schweiß vom Gesicht. Vor ihm steht eine schwere Eisenkanne, die er mit Wasser aus einem öffentlichen Brunnen befüllt. Wie in nahezu allen sibirischen Dörfern gibt es auch in Wiktors Heimatort Asowo in den meisten Häusern kein fließendes Wasser. „Aber meine Kühe und Hühner sind bei diesen Temperaturen natürlich besonders durstig, die können gar nicht genug bekommen“, erklärt Wiktor, und dann huscht plötzlich ein zufriedenes Lächeln über sein tief gebräuntes Gesicht. Denn eigentlich mag der Kasache, der 1993 hierher kam, ihn ja - den Sommer in Sibirien. Nach einem langen, harten Winter erwarten ihn die meisten Menschen hinter dem Ural mit Ungeduld. Die warme Jahreszeit ist kurz, höchstens drei Monate von Anfang Juni bis Ende August, dafür aber umso intensiver. Dafür sorgt das kontinentale Klima. In der südsibirischen Region Asowo können die Temperaturen – wie in diesem Jahr – so schon einmal von minus 45 Grad im Februar auf plus 40 Grad im Juli ansteigen. Noch extremer ist es im Norden Sibiriens. So wurden in der nordsibirischen Provinz Jakutien schon Temperaturunterschiede zwischen Sommer und Winter von bis zu 100 Grad gemessen. Frühling und Herbst kennen die Sibirjaken kaum. Noch Ende Mai liegt vereinzelt Schnee, die Bäume sind kahl. „Dann, plötzlich über Nacht, explodiert die Natur förmlich“, schildert die deutsche Studentin Andrea Schneider, die für einige Monate zur Sibirjakin wurde.
An der Uferpromenade des Irtysch. Foto: Diana Püplichhuysen Mit den ersten Blüten erwachen auch die Menschen zu ungeahnter Energie und entwickeln nahezu südländisches Temperament. In der Millionenstadt Omsk, 45 Kilometer entfernt von Asowo, sind derzeit die Straßen bis tief in die Nacht bevölkert. Jugendliche sitzen mit Bierflaschen auf den Parkbänken oder an der Uferpromenade des Irtysch, der als einer der größten Flüsse Sibiriens die Stadt in zwei Hälften teilt. Am Strand wird noch Volleyball gespielt und einige Figur bewusste Omitschi, wie sich die Bewohner der Stadt nennen, machen Klimmzüge an den Fitnessstangen. Der Winterspeck muss weg, denn nach der langen Kälteperiode denken nicht wenige vor allem auch an eines: endlich wieder flirten. „Klar sind wir auch wegen der Mädchen hier“, sagen Michael und Pawel und posieren für die Kamera. Zusammen mit ihren Freunden genießen die beiden Studenten ihre Ferien wie jedes Jahr mit schwimmen, sonnen und feiern. Einige Meter weiter geht es ernster zu. Eine Gruppe von Männern sitzt konzentriert über einem Spiel Schach und Backgammon. Das sei ihre Form der Erholung, sagen sie. Das Gehirn trainieren. Die Stärkung zwischendurch können sie sich an jeder Ecke besorgen. Der Geruch von frisch gebratenen Schaschlikspießen gehört zum sibirischen Sommer genauso, wie das Geschrei von spielenden Kindern, die zu dieser Jahreszeit selten vor 23 Uhr ins Bett müssen. Narrenfreiheit. Das, so meinen die Sibirjaken, hätten sich nach den vielen Entbehrungen des Winters einfach alle verdient.Doch nicht für jeden ist der Sommer Vergnügen und Erholung. Die kurze Wärmeperiode muss gut genutzt werden: für die Landwirtschaft, die Bauindustrie, die Ausbesserung des Hauses, den eigenen Garten oder die Datscha. Bereits im Oktober beginnt es meist wieder zu frieren. Und so wird, anders als in Italien oder Spanien, in der sommerlichen Hitze Sibiriens auch mehr draußen gearbeitet, als in den restlichen Monaten des Jahres. „In der Omsker Region wird im Sommer zwischen 50 und 70 Prozent mehr gebaut als im Winter“, erklärt Wladimir Lawrow vom regionalen Wirtschaftsministerium. So auch in Asowo. Auf der kleinen Hauptstraße des Ortes sägt und hämmert eine Gruppe junger Männer in der prallen Mittagssonne, mit nacktem Oberkörper und ohne Sonnenschutz. Sicher nicht ungefährlich, aber danach fragt hier niemand. Ein neues Gebäude muss fertig gestellt werden und die Bauarbeiter schlagen Bedenken schnell in den Wind. Zu heiß zum arbeiten sei es nicht, außerdem wären sie es schließlich nicht anders gewohnt. „Ja, das sind schon knallharte Burschen. Überstunden oder Hitze sind kein Hindernis“, betont Lawrow. „Arbeitsschutz gibt hier nun einmal nicht. Wer sich weigert muss gehen. Und jeder hier brauch einfach das Geld.“
Auch die Blumenverkäuferinnen am Omsker Bahnhof schieben Überstunden, jedoch wenigstens mit einem Sonnedach über dem Kopf. Ljudmila Gerasimowa arbeitet hier bereits seit zehn Jahren: „Auch im Winter stehen wir hier und verkaufen, allerdings erheblich weniger“, erklärt sie. „Die Sonne animiert die Leute eher, stehen zu bleiben und einen Strauß fürs Wohnzimmer oder als Geschenk mitzunehmen.“ So würden sie und ihre Kolleginnen meist länger arbeiten, als es die offiziellen Geschäftszeiten von 9 bis 18 Uhr vorsähen. Wenn sie dann spät abends nach Hause kommen, bleibt nur ein Trost. Bis Ende August ist es in Sibirien bis 23 Uhr hell - genügend Zeit für ein Bier im Freien oder eine Runde Schach. Ende