Revolution nach Drehbuch
Bezahlte Demonstranten, verordnetes Schweigen und gezielte Stimmungsmache prägen das Bild der aktuellen Proteste in Kiew. Während Wiktor Janukowitschs Partei der Regionen ihre Anhänger organisiert auf die Straße schickt, bleiben die Unterstützer von Präsident Wiktor Juschtschenko den Demonstrationen bewusst fern. Die Bewohner Kiews versuchen derweil weiter ihren täglichen Geschäften nachzugehen. Eines wünschen sich alle: einen friedlichen Ausweg aus der politischen Sackgasse und endlich Stabilität.
Früh morgens am Ufer des Dnepr geht es zu wie in einem Taubenschlag. Ein Linienbus nach dem anderen rollt auf den großen Parkplatz unter dem Freundschaftsbogen, dem großen Stahlmonument aus Sowjetzeiten. Die Busse bringen Menschen aus den Regionen - Frauen, Männer aber vor allem Jugendliche aus dem Donezkgebiet, aus dem westukrainischen Chmelnizk, von der Krim. Es sind die Anhänger der Regierungskoalition um Premierminister Wiktor Janukowitsch, Wähler seiner Partei der Regionen.
Demonstration in blau / Diana Püplichhuysen, n-ost
Seit Präsident Wiktor Juschtschenko am 2. April per Notstandserlass das Parlament aufgelöst und für den 27. Mai Neuwahlen angekündigt hat, bringen die "Blauen" ihre Anhänger in einer groß angelegten Aktion nach Kiew. Um zu demonstrieren. Und dabei geht es äußerst organisiert zu. Fahnen und Anstecker werden verteilt, ältere Parteimitglieder gruppieren sorgfältig die Demonstrationszüge und verkünden Verhaltensregeln. Für die jugendlichen Demonstranten lautet die wichtigste dieser Regeln "kein Kommentar gegenüber der Presse."
"Natürlich sagen diese jungen Leute das nicht, aber alle wissen, dass ihnen verboten wurde, Interviews zu geben", empört sich die Ljudmila Beresowa. Die 38-Jährige ist Krankenschwester im Zentralen Hospital und gerade auf dem Weg zur Arbeit. Wie für die meisten Bewohner Kiews geht für sie der Alltag weiter, trotz der rund 4 500 Demonstranten, die in der ukrainischen Hauptstadt den Marinskij Park vor dem Parlament, den Platz der Unabhängigkeit und den Eingang der Zentralen Wahlkommission belagern. Zelte erinnern an die Orangene Revolution vor über zwei Jahren und augenscheinlich haben sich nur die Farben der Flaggen verändert. Blau, das Rot der Kommunisten und die pinkfarbenen Banner der Sozialisten prägen das Bild. Doch unter der Oberfläche ist alles anders."
"Komm her du Idiot. Was hast du da gerade erzählt?", fährt ein Organisator der Demonstrationszüge den jungen Studenten in Lederjacke an, der gerade etwas in das Mikrophon eines ausländischen Fernsehsenders gesprochen hat. Dieser lacht verstört und sucht das Weite. Dass die Partei der Regionen ihre Demonstranten bezahlt, ist in Kiew ein offenes Geheimnis. Zwischen 100 und 130 ukrainische Griwen, umgerechnet rund 15 bis 20 Euro, sollen sie pro Tag erhalten. Besonders für die vielen jungen Demonstranten kein geringer Betrag. Dafür wird konformes Verhalten verlangt. "Man kann es eine Revolution nach Drehbuch nennen", sagt Alexander Romanenko. Der 32-jährige Kiewer verfolgt die Ereignisse in seinem Land aufmerksam und kritisch. Des politischen Tauziehens ist er überdrüssig.
Ebenso Alina Choroschilowa: "Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Neuwahlen gibt, aber die werden nichts ändern", konstatiert die 28-jährige Studentin trocken. Außerdem habe sie andere Sorgen. Alina Choroschilowa liegt in erster Linie das Wohlergehen ihrer achtjährigen Tochter Mascha am Herzen. "Die Demonstranten laufen grölend an Kindergärten und Schulen vorbei. Das macht den Kindern Angst, weil sie es nicht verstehen", sagt sie. Ihrer Meinung nach könne nur das Verfassungsgericht etwas ändern, Demonstrationen dagegen nicht.
Demonstrant in voller Montur / Diana Püplichhuysen, n-ost
Und in der Tat liegt die weitere politische Entwicklung derzeit zu einem großen Teil in der Hand der obersten Richter des Landes. Sie sollen entscheiden, ob die Auflösung des Parlaments durch Präsident Juschtschenko verfassungskonform ist. Als Reaktion auf den politischen Druck reichte Iwan Dombrowskij, Leiter des Obersten Verfassungsgerichts, am 4. April seinen Rücktritt ein. Der wurde abgelehnt. Mittlerweile lehnen fünf weitere Richter des Gerichts ein Urteil über die Parlamentsauflösung ab, wie Verfassungsrichter Wiktor Schischkin am Dienstag der russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti mitteilte. Als Grund gab Schischkin an, die Richter würden durch Vertreter des Regierungsblocks um Ministerpräsident Janukowitsch unter Druck gesetzt.
"So sind wir nicht in der Lage, eine unabhängige Entscheidung zu treffen", sagte Schischkin. Die ukrainischen Verfassungshüter fordern Polizeischutz. Nun heißt es weiter abwarten. "Eine gefährliche Situation", nennt das ukrainische Zentrum für unabhängige politische Analysen gegenüber der Kyiv Post das bislang ergebnislose Tauziehen. "Ich möchte, dass dieses Land endlich Frieden findet, das Einheit und Stabilität herrschen", sagt Alina Choroschilowa. Und das ist ein Wunsch, der ebenso Orangene und Blaue wie politische und unpolitische Teile der ukrainischen Bevölkerung eint. "Wir unterstützen die Entscheidung unseres Präsidenten", sagt der 31-jährige Mediziner Sergej Kusnezow. Die Orangenen würden den Demonstrationen bewusst fern bleiben, um eine Eskalation der Situation zu vermeiden.
Abseits dieses gemeinsamen Zieles gehen die Sichtweisen der Ukrainer auseinander. Während Kusnezow wie weitere Anhänger Juschtschenkos den Kurs des Präsidenten Richtung NATO und EU gut heißt und eine "spürbare Demokratisierung" der Ukraine als Leistung des Präsidenten verbucht, treiben die Menschen außerhalb Kiews meist andere Probleme um. "Die Preise sind gestiegen, mein Lohn aber nicht", klagt der 26-jährige Kolja, der in dem westukrainischen Chmelnizk als Schreiner arbeitet und sich selbst einen "absoluten Janukowitsch-Fan" nennt. "Was hat Juschtschenko in den letzten zwei Jahren schon gemacht?", fragt Kolja und gibt die Antwort selbst: "Gar nichts." Er verdiene im Monat nur 170 US-Dollar, da sei es schon wichtig, wie viel Lebensmittel, Möbel und Kleidung kosten. Janukowitsch, der gelernte Autoschlosser aus dem Donezkgebiet, versteht, so die Sicht vieler Menschen aus den Regionen, ihre täglichen Sorgen einfach besser.