Sommerstadt mit Winterambitionen
Die russische Schwarzmeer-Metropole Sotschi wird 2014 die Olympischen Winterspiele ausrichten / Ein Porträt
Sotschi (n-ost) - Wer am Bahnhof von Sotschi aus dem Zug steigt, wird sofort von Einheimischen umringt: "Wohnung! Wohnung!", rufen sie. "Braucht ihr ein Zimmer? Nur 200 Meter entfernt vom Meer!". Wer sich interessiert zeigt, findet sich plötzlich in einem Auto wieder und wird durch enge Straßen an Zypressen und blühenden Magnolien vorbei, zum Quartier geleitet. Das Privatzimmer ist nicht besonders komfortabel, aber kühl. Im Hof zieht die Haushälterin Bananen, Kiwi und Feigen.
Im Sommer schwillt die Einwohnerzahl Sotschis auf ein mehrfaches an. Jedes Jahr zieht es vier Millionen Urlauber hierher. Dicht an dicht tummeln sie sich am Strand. Der Winter und seine Spiele scheinen so weit weg, wie der Mond, doch man muss nur nach Osten schauen, um die schneebedeckten Gipfel des Kaukasus zu sehen. Am Stadtrand steigt der erste Kaukasuskamm auf 1000 Meter auf, der Hauptkamm in 40 Kilometern Entfernung erreicht Höhen von über 3000 Metern. Die meisten olympischen Wettbewerbe werden rund um den Skiort Krasnaja Poljana. Dieser befindet sich in 600 Metern Höhe, der höchste Skilift erreicht eine Marke von 2200 Metern.
Winterspiele unter Palmen
Tatjana Tscherkezyan
Natalja aus der Siedlung Imeretinskaja Dolina im Süden von Sotschi gehört zu den vielen Einwohnern, die neben ihrem eigenen Haus einen Anbau für Urlauber errichtet haben. Sotschi boomt. Mit dem Zusatzgeschäft hat sich Natalja im Laufe der Jahre einen eigenen Jeep verdient und finanziert das Studium ihres Sohnes. Als ein Dienstmädchen starken Kaffee für die Gäste serviert, erzählt die Hausbesitzerin, dass ihr Anwesen wie fast alle in dieser Gegend als Schwarzbau gilt. "In dieser Gegend will man olympische Wettkampfstätten etwa für Curling und Eislauf bauen. Nun fürchten wir alle, dass unsere Häuser abgebrochen werden. Damit hat man schon gedroht", klagt sie. Selbst wenn es Ausweichquartiere geben sollte, das Geschäft mit den Urlaubern steht auf dem Spiel.
Ähnlich wie Natalja gibt es einige Einwohner Sotschis, die die Olympischen Spiele mit Skepsis betrachten. Einerseits versprechen die Spiele internationale Bekanntheit, neue Touristen und riesige Investitionen in bessere Straßen, vernünftige Abfallsysteme und eine neue Kanalisation. Doch dafür dürfte sich die Stadt in eine große Baustelle verwandeln mit staubiger Luft, statt Magnolien- und Fichtennadelduft. Dazu kommt noch der Konflikt um die Baugrundstücke, nach denen Großkonzerne wie Gazprom, Rusal und Interros schon die Fühler ausstrecken.
Unglaubliche zwölf Milliarden Euro wollen der russische Staat und vor allem die Großkonzerne bis 2014 in das Projekt Olympia investieren. Zwei olympische Dörfer - eines im Kaukasus, eines an der Küste - müssen errichtet werden, dazu eine Rodelanlage samt Tribüne, ein 40.000 Zuschauer fassendes Olympiastadion und neun weitere olympische Komplexe.
Das Motto der Bewerbung von Sotschi lautet "Zusammen gewinnen wir". Und die Bevölkerung der Stadt steht laut Umfragen auch zu 86 Prozent hinter der Bewerbung. Das sagt zumindest Bürgermeister Viktor Kolodjaschnij. Nelli Sasikowa, die das kleine Hotel Tschaika betreibt, zählt zu den klaren Befürwortern. "Ich glaube, Olympia wird uns mehr Gäste auch im Herbst und Winter bringen, wenn die vielen Bauarbeiter oder die internationalen Beobachter hierher kommen". Bislang sei Sotschi im Winter ziemlich ausgestorben. "Bis jetzt sind wir nur im Juli und August komplett ausgebucht, im Winter liegt die Auslastung nur bei 30 Prozent."
Iraida Eremina von der Organisation "Unser Sotschi" sieht das anders. "Man hat uns Einwohner nicht gefragt, ob wir die Olympischen Spiele hier wollen oder nicht", klagt die Journalistin. "Wir sind gastfreundlich, aber wir möchten, dass man uns fragt. Dann könnte sich die Stadtverwaltung auf die wahre öffentliche Meinung stützen anstatt sie sich auszudenken. Ich unterstütze die Olympischen Spiele, aber die Sommerspiele."
Naturschützer kritisieren, dass 84 Prozent der olympischen Anlagen in einem Nationalpark geplant seien. Der Westkaukasus gehört zum UNESCO-Weltnaturerbe. "Die Olympiade dient als Vorwand für die Bebauung der einzigartigen Wälder", vermutet die russische Sektion von Greenpeace. Die Organisation hatte gegen die Ausbaupläne vor Gericht geklagt, war aber gescheitert. Trotz mancherorts zu hörender Skepsis regt sich in der Stadt nur verhaltener Protest. Aber wer will schon bei 35 Grad im Schatten protestieren, wenn man baden, frisch gepflückte Pfirsiche essen und mit Urlaubern schwatzen kann?
Gutachter Wladimir Ostapchuk, der für mehrere olympische Objekte die Auswirkungen auf die Natur abschätzen soll, sieht die Sache pragmatisch. "Die Stadt braucht Entwicklung!", betont er. "Besser diese kommt mit Olympia, als ohne." Ohne die Spiele würden die Naturschutzgebiete auch bebaut, aber wesentlich unkontrollierter. Olympia dagegen garantiere öffentliche und internationale Aufmerksamkeit.
Sotschi ist als Stadt schwer zu greifen. Der Name wird für einen 145 Kilometer langen Streifen zwischen Schwarzem Meer und Kaukasus-Gebirge verwendet, der von zahlreichen Flüssen durchschnitten wird. Insgesamt leben hier nur 350.000 Menschen. Wer "Sotschi" sagt, meint in der Regel den zentralen Teil, bestehend aus Schlafbezirken mit grauen Plattenbauten aus sowjetischer Zeit, Amtsgebäuden, Hochschulen und einem zähflüssigen Verkehr auf den Straßen. Die Siedlung Sotschi ist so lang gestreckt, dass die Hauptstraße - der Kurortnij Prospekt (Kurort-Boulevard) - einer Autobahn gleicht, die sich an der Schwarzmeerküste entlang schlängelt. Nur zehn Autominuten weiter südlich befindet sich die Grenze zur Region Abchasien, einem Kleinstaat, der um seine internationale Anerkennung und die Loslösung von Georgien kämpft. Weil die Preise in Sotschi stark angezogen haben, weichen viele Russen gerne nach Abchasien aus, wenn sie nicht gleich in die Türkei fliegen.
Sotschi wurde in den 1930er Jahren unter Stalin zum Hauptbadeort der Sowjetunion ausgebaut. Eine Kur im Schwarzen Meer wurde zum Sommertraum für fast jeden Sowjetbürger. Und dank staatlicher Subventionen war der Traum für viele auch erfüllbar. Auch Stalin selbst ließ sich hier eine seiner Urlaubsdatschen errichten. Seitdem hat sich viel verändert. Geblieben ist die neoklassizistische Architektur der Sanatorien und Staatsdatschen, geblieben sind die tropischen Obstbäume und natürlich das Meer, das im August Temperaturen von 27 Grad erreicht.
Olympia wird zum großen Geschäft: In Imeretinskaja Dolina, wo Natalja wohnt, kostet der Quadratmeter bereits mehr als 400 Euro. Es sind vor allem wohlhabende Moskauer, die sich in und um Sotschi Villen mit Blick aufs Meer bauen. Das ehemalige sowjetische Sanatorium Rodina wurde zu einem Grand Hotel umgebaut, in dem eine Nacht durchschnittlich 1000 Euro kostet. Spötter nennen Sotschi die "Sommerfiliale Moskaus". Reiche Hauptstädter ziehen in Strandnähe Hochhäuser mit sündhaft teuren Wohnungen hoch. In jedem Juni wird Sotschi zum russischen Cannes. Bei den Filmfestspielen "Kinotavr", den größten des Landes, promenieren Stars und Sternchen die Küste entlang.
Ein typischer Zeitvertreib an der Küste ist die "Wasserbanane". Man kann auch Kitesurfen oder Wasserscooter fahren. Für drei Euro kann man sich mit muskulösen Schwarzafrikanern oder vor teuren Jachten fotografieren lassen. Am Strand werden Wassermelonen und lokale, süße Weine vom Fass verkauft. In dieser Saison sind in den Stranddiskotheken T-Shirts mit dem Logo "SOCHI 2014" der Renner und das ideale Gesprächsthema für flirtfreudige Pärchen.
Trotz gelegentlichen Glamours werden Europäer in Sotschi einiges vermissen. Am Strand fehlen Abschnitte für FKK, Strandkörbe wie an der Ostsee sind unbekannt. Der Strand ist oft steinig. Fahrradtouren wie an der Ostsee-Küste empfehlen sich nicht - der Tourist findet keine Wege und muss zudem das südliche Temperament der Autofahrer beachten. Wer sich nicht auskennt, sollte ein paar Wörter Russisch lernen, denn die wenigsten Einwohner sprechen Fremdsprachen. Für die Olympischen Spiele will man jetzt wenigstens den Polizisten in Schnellkursen Englisch beibringen.
Eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten von Sotschi ist der Hafen. Russland hat sehr wenige Orte, an denen Segelbootbesitzer das ganze Jahr über mit ihren Schiffen anlegen können. Für Touristen ist der Besuch der Marina mit ihren Dutzenden kleinen und großen Jachten ein Muss. Das Hafengebäude selbst ist zum Wahrzeichen der Stadt geworden.
Wer vom Trubel an der Küste die Nase voll hat, fährt einfach in den nahen Kaukasus. An jeder Straßenecke in Sotschi werden Busfahrten ins Gebirge angeboten. Die Touren gehen zu Wasserfällen, Höhlen, Forellenzuchtstationen oder Heilquellen. Wer das Abenteuer sucht, kann auf dem Fluss Msymta Raftingtouren buchen
Der Skiort Krasnaja Poljana ist rund 40 Minuten mit dem Auto entfernt. Im Frühling und Herbst sind die Extreme besonders augenfällig: Von der immer noch relativ warmen Seeküste gelangt man in nur einer Stunde in ein Skiparadies. Im Winter ist Krasnaja Poljana der teuerste Skiort Russlands. Die oberen Zehntausend wollen es dann ihrem Präsidenten nacheifern, der hier gerne die Hänge hinunterwedelt. Wladimir Putin ist zum wichtigsten Botschafter für Sotschi geworden. Ist er nicht im Moskauer Kreml, in seiner Heimatstadt St. Petersburg oder im Ausland auf Staatsbesuch, so findet man Putin am Schwarzen Meer in seiner Residenz "Botscharow Rutschei". Hierhin wurden im Vorfeld der Olympia-Entscheidung auffällig viele Staatsgäste eingeladen. Im Frühjahr 2007 war auch Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Besuch. Putin ist quasi zum ersten Maskottchen der Spiele geworden. Eiskunstlauf-Weltmeister Jewgenij Pluschenko, der wie viele russische Sporthelden die Bewerbung von Sotschi unterstützte, war sich schon früh über die Auswahl der Stadt durch das Olympische Komitee sicher. "Weil der Präsident das gesagt hat."
Service:
Urlauber finden in Sotschi alle Preiskategorien. Privatwohnungen gibt es ab 200 Euro pro Woche, im RadissonSAS muss man mit 1500 Euro pro Woche rechnen. Für Russland benötigen Deutsche ein Visum. Da dies nicht selten mit Komplikationen verbunden ist, inklusive der Registrierung vor Ort, empfiehlt es sich, den Urlaub über ein Reisebüro zu buchen. wie z.B. www.vostok.de oder www.troikareisen.de. Letztere Agentur bietet auch Schwarzmeer-Rundreisen an, bei denen die Krim enthalten ist. Direktflüge nach Sotschi gibt es von Frankfurt am Main aus (Fluggesellschaft Aeroflot-Don). Ansonsten gelangt man nach Sotschi meist über einen Zwischenstopp in Moskau.
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Julia Uraktschejewa