Albanien

Albanien gedenkt der Wende

„Feedback 1989” – ein großes Plakat kündet über der Freitreppe des einstigen Staatshotels Dajti in Tirana vom künstlerischen Großereignis zur Wende-Erinnerung in Albanien. Im Inneren des leer stehenden Hotels riecht es nach Feuchtigkeit und Verwesung. Auf dem kalten Fußboden und an den Wänden reflektieren Künstler in Installationen, Videos, Fotos und Bildern ihren ganz persönlichen Blick auf die Wende – die Wende aus rumänischer, serbischer, bulgarischer, albanischer und deutscher Sicht.

An den vergilbten Mauern hat Nikolin Bujari Propaganda-Sprüche wie „Sieg dem Marxismus-Leninismus“, „Albanien ist eine steinerne Festung“ oder „Albanien in die NATO“ eingraviert. Das wahrscheinlich eindrucksvollste Video der Schau stammt von Armando Lulaj: „Living in Memory“: Ein fünfzackiger Stern des Sozialismus verbrennt in fünf Minuten und stürzt in sich zusammen. Das von Adela Demetja und Julie August betreute Kunstprojekt ist vom 30. Oktober bis 15. November in Tirana zu sehen. Es zeigt neben Kunst auch das Bild der Wende in verschiedenen europäischen Schulbüchern und zieht damit ganze Schulklassen ins Hotel Dajti.

Die eindrucksvolle Ausstellung ist Teil des von der Deutschen Botschaft ausgerufenen „Deutschen Oktobers“, eines deutsch-albanischen Kulturmonats mit einer ganzen Reihe von literarischen und künstlerischen Veranstaltungen. Der federführende Botschafter Bernd Borchardt hebt in mehreren Fernsehinterviews die symbolische Bedeutung des Mauerfalls gerade für Osteuropa hervor und bezeichnet den „Deutschen Oktober” als primär künstlerischen Impuls, um in Albanien einen Diskurs über die eigene kommunistische Vergangenheit zu stimulieren.

Im Rahmen des „Deutschen Oktobers“ werden unter anderem Filme wie „Goodbye Lenin“, „Sonnenallee“ und „Nikolaikirche“ gezeigt, die in Albanien kaum bekannt sind. Ein weiterer Anziehungspunkt ist die Deutsche Botschaft selbst, in der vom 5. bis 15. Oktober die Ausstellung „Ortszeit / Local Time” von Stephan Koppelkamm zu sehen ist. Koppelkamm reiste 1990 und 2002 mit seiner Kamera durch Ostdeutschland – eine Reise, die Ortsveränderungen und gesellschaftliche Veränderungen im Foto sichtbar werden ließ.

Auch wissenschaftlich wird die Wende betrachtet: Auf der Konferenz „Erinnerungsorte” Anfang November in Zusammenarbeit mit der Universität Tirana und der Universität Bielefeld wird die kollektive Erinnerung an den Sozialismus in Deutschland und Albanien in einer vergleichenden Perspektive untersucht.

Am Abend des 9. November gedenkt das albanische Fernsehen des Mauerfalls mit Diskussionen und Sondersendungen. Im staatlichen Kanal (TVSh) diskutieren Historiker, der albanische Ex-Botschafter in Berlin und der jetzige deutsche Botschafter in Tirana kontrovers über die Wende. Im privaten Klan-Kanal wird eine Sondersendung ausgestrahlt, in Ora-News zeigt man euphorische Photos vom Mauerfall, untermalt vom Scorpions-Song „Wind of Change“. Bereits am 15. Oktober ist der ehemalige Chef der kommunistischen Arbeiterpartei und Nachfolger Enver Hoxhas, Ramiz Alia, in der Talk-Show „TopStory” zu Gast. Er spricht über die Rolle Albaniens bei der Errichtung und beim Fall der Berliner Mauer. Die Besuche von Franz-Joseph Strauss in Albanien 1984 und 1986 sowie von Hans-Dietrich Genscher 1987 werden von ihm als Meilensteine auf dem Weg aus der Isolation angesehen. Albanien war seiner Meinung nach der letzte Domino-Stein in einer Kette von Ereignissen in Osteuropa. Sein Interview endet mit dem Satz „So lange es hungernde Menschen in Albanien geben wird, so lange wird es eine Sehnsucht nach dem alten Regime geben.” Als eine Antwort erscheint am Folgetag in der Zeitung „Tema“ ein Artikel von Fitim Zekthi, in dem Faschismus und Kommunismus als Ideologien des Völkermordes unreflektiert gleichgesetzt werden.

Bei den politischen Parteien in Albanien werden der Mauerfall und die Wende-Ereignisse aus aktuellem Anlass instrumentalisiert. Oppositionsführer Edi Rama (Sozialistische Partei) wählt als Tag für eine öffentliche Protestkundgebung gegen die Regierung Berisha in Tirana ausgerechnet den 20. November. Im „Tirana Observer“ sagt Rama, er wolle mit diesem Termin nicht nur an den 20.11.1989 als Ausgangspunkt für die Nelken-Revolution in der ČSSR anknüpfen, sondern auch an den 20.11.2004 als Beginn der Orangenen Revolution  in der Ukraine erinnern. In beiden Fällen kam die herrschende Regierung zu Fall, womit Rama eine Parallele zu seiner eigenen Politik ziehen will. Auch am rechten Spektrum der albanischen Politik wird mit dem Mauerfall als Metapher gearbeitet. Im Topchannel „Shqip“ (Rudina Xhunga) thematisieren rechte Politiker eine „imaginäre Mauer“ zwischen den Albanern und ihren Landsleuten im Kosovo und in Mazedonien, die man stürzen müsse, um ein „ethnisches Albanien“ zu verwirklichen.

Zuweilen muss die Berliner Mauer auch für Parallelen zur gegenwärtigen Situation zwischen Albanien und der EU herhalten. Für die Talk-Show von Ora-News „Ora e Debatit” titelt der Journalist Alfred Peza: „Nach der Berliner Mauer: Von der kommunistischen zur kapitalistischen Isolation”. In der Zeitung „Shqip” vom 11. November schreibt Arbër Shtëmbari in seiner Kolumne „Sind Sie ein Albaner?“, dass Albanien nach dem Mauerfall aus Europa verbannt worden sei. „In den Ruinen der Isolation entdeckten die Albaner einen Abgrund, der ebenso tief war wie die hohe Mauer.“ Noch drastischer formuliert es Ramiz Lushaj am 12. November in seinem Artikel „Die Mauer von Berlin und die Mauer von Schengen”.

Auf Doppelseiten setzt sich die Zeitung „Shqip“ weiterhin mit der Wende in verschiedenen osteuropäischen Ländern auseinander. Dabei wird auch Bezug auf neueste Erkenntnisse unter anderem zur Rolle einzelner westeuropäischer Staaten bei der Wende genommen: „Französische Archive: Thatcher und ihr Kampf gegen die deutsche Wiedervereinigung“. Weiterhin wird ein Interview mit Literaturnobelpreisträger Günther Grass abgedruckt, das dessen kritische Haltung zum Mauerfall beleuchtet. In der Zeitung „Shekulli“ meldet sich am 11. November Irida Vorpci mit dem Artikel „Ich bin ein Berliner!” zu Wort, in dem sie aufzeigt, wie sich Albaner als freie und mündige Bürger mit den Errungenschaften der friedlichen Revolution in Deutschland identifizieren können.

Die Wende ist inzwischen auch im albanischen Kino angekommen. Am 4. November stellt Gjergj Xhuvani seinen neuen Film „Ost, West, Ost“ vor, der die Endphase der kommunistischen Diktatur in Albanien thematisiert. Der Diplomat Jorgji Kote, zwischen 2001 und 2005 an der albanischen Botschaft in Berlin beschäftigt, legte mit seinem Buch „Berlin ohne Mauern“ eine interessanten; persönlich gefärbten Nachwendebericht aus albanischer Perspektive vor.


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