Menschenjagd in Sibirien
Nowosibirsk (n-ost) – Organisierte Banden in der westsibirischen Kleinstadt Iskitim haben am vergangenen Wochenende die systematische Vertreibung von Roma aus der Stadt fortgesetzt. In der 69.000 Einwohner zählenden Stadt nahe Nowosibirsk sind seit Dezember mehrfach Holzhäuser in Flammen aufgegangen – ausschließlich in Stadtvierteln, in denen sich die ethnische Minderheit in den letzten Jahren niedergelassen hat. Zuerst brannten zwei Gebäude im Dezember, nochmals zwei im Januar, zehn im Februar.
Am vergangenen Samstag sind nun Fernsehberichten zufolge erneut zehn Häuser in Brand gesetzt worden. Unklar ist, von wem. Die Polizei spricht von Brandstiftung durch die flüchtenden Hausherren, um zu verhindern, dass die Gebäude später genutzt werden können. Alle 400 Roma von Iskitim haben inzwischen aus Angst vor weiteren Überfällen die Stadt verlassen. Nach inoffiziellen Angaben, auf die sich die lokale Presse beruft, ist der Tod eines russischen Bandenmitglieds Auslöser des Konflikts. Der Bandit wäre nach einer Überdosis Drogen gestorben. Dies sei zum Anlass genommen worden, alle Roma aus der Stadt zu jagen. Ihnen wird Handel mit Drogen vorgeworfen.
Weder Polizei noch Feuerwehr greifen bislang spürbar ein. Auch die Bevölkerung schaut eher wohlwollend als schockiert zu. In einem Internetforum schreibt beispielsweise Wladimir aus dem nahe gelegenen Nowosibirsk: „Bravo, Iskitimer! Jagd sie, je weiter desto besser! Es wäre nicht schlecht, wenn man auch noch Nowosibirsk von diesen Bastarden befreien könnte.“ Auch die übrigen Einträge bejubeln die „wehrhaften Einwohnern der Kleinstadt“.
Diese Meinungen zeigen, wie stark die Abneigung der russischen Bevölkerung gegenüber den Lebensgewohnheiten der „Zigany“ ist. Großfamilien okkupieren nach Meinung vieler Russen ganze Stadtviertel und lassen diese verwahrlosen. Ein Wort analog dem deutschen „Roma“ gibt es im Russischen nicht – auch Amnesty International verwendet in Publikationen daher den Begriff „Zigany“.
Die Presse folgt der gesellschaftlichen Tendenz und hält sich mit Kritik zurück. Die Zeitung „Vechernij Nowosibirsk“ titelte im Februar: „Verlässt das Zigeunerlager Iskitim?“ Diesen Montag, zwei Monate später, meldete der lokale Nowosibirsker Fernsehsender: „In Iskitim gibt es keinen einzigen Zigneuner mehr.“ Für die Tatenlosigkeit der Polizei zeigt man Verständnis: „Es gibt sicher Gründe, sich genau so zu verhalten“, heißt es.
Die leerstehenden Häuser in Iskitim werden, insofern sie nicht abgebrannt sind, inzwischen von Obdachlosen oder anderen Minderheiten wie Tadschiken genutzt. Das bewegliche Eigentum wurde von den russischen Nachbarn „privatisiert“, berichtet das Fernsehen. Die Vertriebenen ziehen derweil zu Fuß Richtung Nowosibirsk – bei Temperaturen, die nachts noch nahe Null liegen. Die Mütter und Töchter tragen die Kleinkinder, die Väter und Söhne den verbliebenen Hausrat. Vermutlich suchen sie bei Bekannten in der Millionenstadt Nowosibirsk Zuflucht. Über ihr Schicksal wird im Fernsehen kein Wort verloren.
*** Ende ***
Norbert Schott