Gemischtes Doppel #56: Kadyrow ist nicht Russlands muslimisches Gesicht

Liebe Leserinnen und Leser,
wenn Russlands starke Männer öffentlich eine Träne verdrücken, dann geschieht das nicht einfach so. Wladimir Putin etwa weinte nach seinem Sieg bei den Wahlen im Jahr 2012. Ganz so, als hätte er gerade einen aufreibenden Kampf um die Gunst der Wähler gewonnen und würde nun von seinen eigenen Emotionen überwältigt.
Am Montag dann standen Ramzan Kadyrow, Gewaltherrscher Tschetscheniens, die Tränen in den Augen. Er blickte auf Hunderttausende Tschetschenen, die sich zu einer Kundgebung gegen die Verfolgung von Muslimen in Myanmar versammelt hatten. „Wenn es nach uns ginge, hätten wir längst eine riesige Armee geschickt, um unsere Glaubensbrüder zu verteidigen“, schallte es aus den Lautsprechern.
Nach offiziellen Angaben sollen sich mehr als eine Million Menschen in Grosny versammelt haben. Das wären etwa 80 Prozent der Bevölkerung der Republik. Wer würde bei einem solchen Erfolg nicht in Tränen ausbrechen? Mehr noch: Im Vorfeld drohte Kadyrow Moskau sogar, er würde sich gegen Russland stellen, sollte Russland für die Regierung Myanmar Partei ergreifen. Wie das konkret aussehen könnte, sagte er jedoch nicht.
Seitdem rätseln in Russland die Experten, was den Herrscher in Tschetschenien geritten habe. Dass er mit seiner aufbrausenden und emotionalen Art nicht immer Moskaus außenpolitischer Linie nützt, ist längst kein Geheimnis mehr. Diesmal fürchtet Moskau um lukrative Waffen- und Nukleargeschäfte mit Myanmar, denn schließlich ist Kadyrow einer von Putins ergebensten Gefolgsleuten, der Moskaus Partnern in Myanmar öffentlich mit blanker Gewalt droht.
Von oben organisierte Massenkundgebungen sind in Tschetschenien keine Seltenheit. Schon nach dem Terroranschlag auf das französische Magazin Charlie Hebdo hatte Kadyrow Hunderttausende auf die Straße gebracht. Nicht etwa aus Solidarität mit den toten Mitarbeitern des Magazins, sondern um den Unmut über die Karikaturen selbst kundzutun.
Das wahre Motiv für die Abweichung vom Kremlkurs kennt wohl nur der Herrscher in Tschetschenien selbst. Ob Kadyrow wirklich zum Außenpolitiker gereift ist und sich mächtig genug fühlt, um seinem Patron in Moskau zu widersprechen oder ob es sich um ein politisches Spiel handelt, dessen Motive noch nicht zu durchschauen sind, wird sich erst in den kommenden Tagen zeigen.
Das eigentliche Problem ist, dass das Auftreten Kadyrows und die Diskussion um seine Rolle die wirkliche Meinung vieler Muslime innerhalb Russlands, die insgesamt etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, überlagert. Auch wenn die Demonstrationen in Tschetschenien von oben organisiert waren, sind viele Muslime in Russland tatsächlich aufgebracht über den Umgang der Regierung in Myanmar mit ihren Glaubensbrüdern.
Mit politischen Forderungen auf die Straße zu gehen, traut sich in Russlands islamisch geprägten Republiken wie Tatarstan oder Baschkortostan jedoch kaum jemand. Auch die Religionsführer haben sich sehr zurückhaltend geäußert und davor gewarnt, Aufrufen zu Demonstrationen zu folgen.
Und so wird Kadyrow mit seiner blanken Machtdemonstration zum Gesicht des politischen Islam in Russland, das sich sogleich selbst diskreditiert. Im restlichen Land, vor allem bei der nichtmuslimischen Bevölkerung, kommt das brutale und rabiate Auftreten von Kadyrow und seinen Mannen bei solchen Kundgebungen nicht gerade gut an.
Zu allem Überfluss hatte Russland auch noch einen Tag nach der Machtdemonstration Kadyrows plötzlich seine Position zu Myanmar leicht verändert. Stand Moskau früher eindeutiger auf Seiten der Regierung, so rief Russlands Außenministerium diesmal beide Seiten des Konflikts zum konstruktiven Dialog auf.
Im Gemischten Doppel geben Inga Pylypchuk (Ukraine) und Maxim Kireev Russland) im wöchentlichen Wechsel persönliche (Ein)-Blicke auf ihre Heimatländer.
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